Die Kunst des Mittelalters
Überlegungen zur Betrachtung romanischer Kunst
Steht der heutige Betrachter zum ersten Mal vor romanischen, in diesem Fall der Lambacher Fresken, so könnte man Kommentare hören wie: Die Figuren haben eine komische Gesichtsfarbe, sie stehen auf den Zehen, die Arme und Beine haben etwas insektenhaftes, die Perspektive stimmt nicht usw. Dies oder ähnliches wird er als nicht vorhandene Übereinstimmung mit der optischen Realität anmerken.
War es ein Unvermögen der damaligen Künstler? Konnten sie es nicht besser? War die realistische Kunst der Antike mit dem Untergang Westroms und in den Wirren der Völkerwanderung verloren gegangen?
Das geistige Bild, das als „inneres Bild“ eines jeden Künstlers vorhanden ist, existiert vorerst nur für ihn. Erst wenn es Gestalt als Bild annimmt, existiert es auch für andere. Das gilt natürlich auch für den mittelalterlichen Künstler. Dieses Bild ist zweifach definiert: Es existiert autonom in sich, durch sich und für sich selbst; aber es hat zugleich eine Existenz außerhalb seiner selbst, es bedeutet etwas. Seine Linien und seine Formen sind da, um Zeichen zu bilden.
Die Malerei stellt Gedanken durch graphische Zeichen bildlich dar, sie besitzt den Charakter einer Schrift. „Liest“der Betrachter das Bild, so sieht er, was der Maler darstellen wollte, er identifiziert das Zeichen mit dem Bezeichneten. Für den mittelalterlichen Menschen ist das graphische, plastische oder sprachliche Zeichen völlig identisch mit dem Bezeichneten – eine reale Identität mit all ihren „magischen“ Folgen.
Mit dem Beginn der Gotik und besonders seit der Renaissance hat sich die Seh- und Denkweise des Menschen in die entgegensetzte Richtung verändert. Ursache dafür ist der Realismus in der Darstellung, der Individualismus und die wissenschaftliche Erkenntnis der Welt. Ihm erscheint diese Identität nurmehr im Begriff als eine Einheit. Ausgenommen sind Malerei und Plastik, bei der sich der „zeitgenössische, naive“ Betrachter noch einen Rest des uralten Glaubens bewahrt hat.
Er ist unfähig, das Kunstwerk als Zeichen aufzufassen; es bleibt für ihn an den Gegenstand gebunden, den es „darstellt“ – eine Identität, die er als richtig empfindet, solange das Kunstwerk „ähnlich“ – ist; anderenfalls spricht er dem Werk jede Daseinsberechtigung ab. Nach seiner Meinung kann ein Kunstwerk nur als Spiegelbild, als „Doppelgänger“ des dargestellten Gegenstandes bestehen. Gewiss würde er diese Forderung niemals an das Schriftzeichen stellen, das er in der Schule gelernt hat; das geschriebene Wort ist für ihn nicht identisch mit dem, was es bedeutet.